Anna klettert hoch hinaus

«Anna, warst du heute schon an der Wand?» «Neeein», antwortet Anna Gujer und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. «Möchtest du jetzt rauf?» «Jaaaa!», sagt sie und lacht. Anna geniesst die Klettercamps von PluSport und nutzt die sportliche Herausforderung zum wiederholten Mal.

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Die Kletterwand hoch über dem Lago Maggiore liegt versteckt im Wald und bietet an diesem sonnigen Tag eine spektakuläre Aussicht auf den See, Ascona und die BrissagoInseln. Zum Klettersektor «Balladrum» im Gebiet des Monte Verità braucht man vom Parkplatz gute 20 Minuten zu Fuss, am Schluss geht es steil bergauf. «Mit unserer Gruppe benötigen wir schon fast eine Stunde, um hier anzukommen», erklärt Benedikt Arnold, der technische Leiter des PluSport-Klettercamps in Arcegno. Die Gruppe besteht heuer aus 9 Leitern und 11 Teilnehmern mit einer geistigen Behinderung. Eine von ihnen ist die Zürcherin Anna Gujer. Als Kleinkind wurde sie aus Rumänien adoptiert. Nur wenige Monate später erlitt Anna einen tragischen Unfall und ist seitdem geistig behindert.

Die gesprochene Sprache der 31-Jährigen aus Uster beschränkt sich zwar auf «Ja» und «Nein», doch ihr eigentlicher Wortschatz ist dank Tablet und Sprachprogramm um einiges grösser. Trotz der beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten läuft das Leben an der fröhlich strahlenden Anna nicht einfach vorbei. Mittels Blickkontakten, Zeichensprache und Gesten lässt sie andere an ihrer Welt teilhaben. Stolz zeigt sie auf ihrem Tablet Fotos, die sie im Camp gemacht hat. Alles wird dabei von einem freudigen «Ja!» untermauert. Jetzt will sie endlich klettern. Ein Leiter führt sie an der Hand zur Kletterwand. Anna wird gesichert, beim Gegencheck hält sie den Daumen hoch. «Juhuuu!», strahlt sie – dabei ist sie noch keinen einzigen Millimeter hochgeklettert. «Nein, Anna, das ist noch kein Juhuu», sagen die schmunzelnden Leiter, die sich von der Vorfreude der jungen Frau anstecken lassen. «Das ist das Schöne an ihrem Wesen», sagt Benedikt Arnold, «sie lacht die ganze Zeit und freut sich über alles.»

Anna braucht nur kleine Starthilfe Anna Gujer steht vor der Steilwand und weiss zunächst nicht recht, wo sie anfangen soll. «Nur der Einstieg ist etwas schwer, Anna, danach wird es viel leichter», wird sie ermutigt. Mit etwas Hilfe meistert sie die Startschwierigkeiten. Mit der Hand tastet sie sich nun der Felswand entlang, um einen geeigneten Vorsprung zu finden, an welchem sie sich festhalten kann. Ihre Bewegungen erscheinen sehr ruhig und routiniert. «Anna ist kräftig und meistert diese Wand extrem gut», sagen ihre Leiter, «letztes Jahr rutschte sie noch viel mit dem Fuss ab, jetzt hat sie eine deutlich bessere Fuss-Koordination.»

Anna klettert auf der Route weiter hoch, verschwindet hinter einem Felsvorsprung und kommt wenig später wieder herunter. «Juhuu! Jaaa!» – Anna ist hörbar stolz auf ihre Leistung. Kaum hat sie festen Boden unter den Füssen, will sie schon die nächste Route meistern. Anna lernt rasch durch praktische Anleitung und Ermutigung – das versetzt sprichwörtlich Berge. Von Ascona her läuten die Kirchenglocken – es ist Zeit für eine Mittagspause. Anna setzt sich zu den anderen, packt ihren Proviant aus ihrem Rucksack und beisst herzhaft in ihr Käse-Sandwich. Kaum ist sie fertig, packt sie die Sonnencrème aus und reibt sich Arme und Nacken ein. Und schon ist sie bereit für die nächste Kletterrunde. Anna wird an diesem Tag die Kletterwand noch sechs Mal bezwingen. «Anna, bist du müde?» «Neeeeeinnnnn!» «Magst du denn noch klettern?» «Jaaaaaa!»