Christian Lohr, Ehrenpräsident PluSport und Alec von Graffenried, Stadtpräsident von Bern
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«Wir Behinderten sind keine Bremsklötze»

Rollstuhlfahrer können die neuen, modernen SBB-Doppelstock-Züge nicht allein verlassen. Unser Ehrenpräsident und Nationalrat Christian Lohr im Interview mit der Bluewin-Redaktion.

Originalbeitrag: bluwin.ch

Unglaublich: Rollstuhlfahrer können die neuen, modernen SBB-Doppelstock-Züge nicht allein verlassen. Werden behinderte Menschen in der Schweiz zu wenig ernst genommen? Ein Gespräch mit CVP-Nationalrat Christian Lohr, der selbst mit körperlichen Beinträchtigungen lebt. Interview: Bruno Bötschi

Die SBB-Doppelstockzüge von Hersteller Bombardier sollten seit über vier Jahren im fahrplanmässigen Einsatz sein und mehr Sitzplätze auf Hauptverkehrsachsen wie Zürich-Bern bringen.
Jetzt, kurz vor dem Einsatz der ersten Kompositionen, drohen wegen eines möglichen Konstruktionsfehlers Millionenkosten und eine weitere Verspätung, wie Recherchen der TV-Sendung «10vor10» zeigen: Rollstuhlfahrer können bei den Zügen nicht selbstständig aussteigen.
Der Behindertendachverband Inclusion Handicap fordert Anpassungen und zieht die SBB vor das Bundesverwaltungsgericht.


Herr Lohr, Sie waren an der Besichtigung der neuen SBB-Doppelstock-Züge am 22. Dezember 2017 mit dabei. Wissen Sie, weshalb es erst dann zur Einberufung kam?

Christian Lohr: Nein, das weiss ich nicht. Ich habe mich gewundert, warum die Begehung so spät stattfand.

Wirklich wahr, dass der Behindertendachverband Inclusion Handicap seit Jahren vergeblich eine Begehung gefordert hatte?

Das stimmt. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass eine Begehung am Ende wenig Sinn mache. Und jetzt stehen wir Behinderten quasi als Buhmänner da. Ich verstehe wirklich nicht, warum die Begehung so spät stattgefunden hat. Mir ist auch klar, man kann so etwas nicht ganz am Anfang eines Projektes manchen, weil man gewisse Dinge Eins zu Eins sehen und erleben muss. Aber es müsste, und das ist auch einer meiner Kritikpunkte, im Interessen von allen Beteiligten sein, dass man eine solche Begehung deutlich früher organisiert. Es geht schliesslich nicht nur um die Interessen der Betroffenen, sondern auch um die des Herstellers Bombardier, der SBB und des Bundesamtes für Verkehr. Ja, alle müssten daran interessiert sein, dass es am Ende nicht zu unschönen Diskussionen kommt. Ich sage das auch, weil ich weiss, dass es auch anders geht: Bei der Entwicklung des Giruno-Zuges von der Stadler Rail wurden wir viel früher in die Entwicklung miteinbezogen.

Bei der Begehung im Dezember zeigte sich, dass die Rampen in den neuen SBB Zügen mit Handrollstühlen nicht ohne Hilfe befahrbar sind. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie das bemerkt haben?

Ich dachte, das darf nicht wahr sein. Ich würde mir wirklich wünschen, dass man unsere Anliegen ernster nimmt, auch weil ich diese Diskussionen seit Jahrzehnten führe. Früher hiess es, wegen zwei, drei Zentimetern sollten sich die Betroffenen nicht so anstellen. Aber genau diese zwei, drei Zentimeter entscheiden darüber, ob Menschen mit Beeinträchtigungen den ÖV selbstständig nützen können oder nicht.

Ein Skandal oder nicht?

Ich bin ein Politiker, der das Wort «Skandal» vorsichtig einsetzt. Ein Skandal ist es, wenn Menschenleben bedroht sind. Aber ein unschöner Akt ist dieser Fall ganz sicher und ja, es ist sehr, sehr befremdend.

Sie sind Vizepräsident von Pro Infirmis, der grössten Fachorganisation der privaten Behindertenhilfe in der Schweiz. Ganz grundsätzlich: Wie haben Sie in den letzten Jahren die Zusammenarbeit zwischen SBB und Behindertenverbänden erlebt?

Ich spüre, dass man auf der Seite der SBB offener ist und die Bereitschaft zugenommen hat, uns Betroffenen einzubeziehen. Trotzdem fehlt es immer wieder an der letzten Konsequenz. Oder wenn Probleme auftauchen, kommen die Verantwortlichen ins alte Fahrwasser. Es wird dann argumentiert: "Ja, das ist jetzt halt dumm gelaufen." Aber ich muss es nochmals betonen: Es geht bei diesen drei Zentimetern mehr oder weniger nicht um ein Nice-to-have, sondern um die Frage, ob Menschen mit Beeinträchtigungen vom Bahnverkehr ausgeschlossen werden oder nicht.

Im Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligung von Menschen (BeHiG) von 2004 heisst es, dass durch entsprechende gesetzliche Bestimmungen für behinderte Menschen die selbständige Benutzung von Zügen ermöglicht respektive erleichtert werden solle ... 

...und trotzdem müssen wir bei der obersten Spitze der SBB immer wieder vorstellig werden und für Verständnis kämpfen. Ich bin regelmässig mit SBB-Chef Andreas Meyer in Kontakt und versuche ihm einzuschärfen, wie wichtig unsere Anliegen sind.

Werden Behinderte in der Schweiz zu wenig ernst genommen?

Ich würde es so formulieren: Man sollte die Thematik noch ernster nehmen. Das Menschen mit Beeinträchtigungen zu wenig ernst genommen werden, wäre eine Pauschalisierung und würde jenen nicht gerecht werden, die es gut machen. Und es gibt viele Behörden, Unternehmen und andere Organisationen in der Schweiz, die in diesem Bereich super Arbeit leisten.

«Die Eingliederung von Behinderten hat vor allem in unseren Köpfen noch nicht genügend Platz gefunden», sagt Pascale Bruderer, Präsidentin von Inclusion Handicap. Sehen Sie das auch so?

Es stimmt, das Bewusstsein der Hindernisfreiheit ist noch zu wenig verbreitet in der Schweiz, daran müssen wir unbedingt arbeiten.

In Grossbritannien gibt es ein Antidiskriminierungs-Gesetz, das sich auch auf bauliche Einrichtungen auswirkt. Wäre das eine Lösung für unser Land?

Ein Gesetz verändert die Rahmenbedingungen, aber wirkliche Veränderungen geschehen nur, wenn auch die Grundhaltung verändert wird. Wer die Gesundheitsversorgung in der Schweiz für Menschen mit Beeinträchtigungen oberflächlich betrachtet, kann sie als recht gut bezeichnen. Schaut man allerdings etwas in die Tiefe, sind gravierende Lücken auszumachen. In der Schweiz hat jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit. Aber der Gedanke vom Gemeinsinn und damit eben auch, dass das Thema «Behinderung» Teil unserer Gesellschaftspolitik sein sollte, ist noch zu wenig verbreitet. Ich persönlich gebe mich deshalb auch nie als Behindertenpolitiker aus, sondern als Gesellschaftspolitiker. Ich will nicht nur für die Behinderten, ich will innerhalb der Gesellschaft etwas verändern.

Behinderte werden oft mit Invaliden gleichgesetzt.

Dem ist leider so. Und das Schlimmste ist - und das ist unserer Gesellschaft absolut unwürdig - Menschen mit Beeinträchtigungen werden oft nur als Kostenfaktor angesehen.

Wenn ich mit dem Zug verreisen will, löse ich ein Ticket und steige in den Zug. Und Sie als Rollstuhlfahrer, was müssen Sie tun, bevor Sie zum Beispiel eine Reise von Ihrem Wohnort Kreuzlingen nach Bern ins Bundeshaus antreten können?

Zuerst schaue ich daheim auf dem Computer nach, welche Züge ich nehmen kann. Das hat die SBB super organisiert: Die App zeigt sofort an, welche Züge ich als Rollstuhlfahrer benützen kann. Danach rufe ich beim SBB Call Center Handicap unter der Gratisnummer 0800 007 102 an und von dort aus wird dann meine Reise mit den von mir gewünschten Zügen organisiert.

Angenommen Sie sind im Bundeshaus an einer Sitzung, die kurzfristig länger dauert, und Sie können den vereinbarten Zug nicht erreichen. Was tun Sie in so einem Fall?

Ich gehe aus der Sitzung raus und rufe bei der SBB an, dass ich eine Stunde später fahren will. Das funktioniert einwandfrei. Ich muss ausdrücklich betonen, dieses Angebot der SBB ist im internationalen Vergleich absolut top. Bei aller Kritik, finde ich, soll man auch sagen, wenn etwas gut ist.

Inclusion Handicap hat Beschwerde gegen die Betriebsbewilligung für die neuen SBB-Doppelstock-Züge eingereicht. Nun drohen eine Verzögerung bei der Einführung der neuen Doppelstockzüge und höhere Kosten. Rechtfertigt sich die Beschwerde trotzdem?

Ich bin ein Mensch, der Lösungen nicht gerne über den Gerichtsweg anstrebt. Aber in diesem konkreten Fall hat die Beschwerde ihre Berechtigung. Wir können über diese fehlenden Zentimeter nicht einfach hinwegsehen. Ich persönlich habe zudem die Absicht, das Gespräch mit den SBB-Verantwortlichen zu suchen. Ich finde, es kann einfach nicht sein, dass man ein Projekt so laufen lässt und dann quasi in der letzten Phase solche Exzesse aufführen muss.